Die Kraft der Ambiguität

Geprägt von der klassischen Moderne, bleibt der Mensch im Bild und der Mensch als Bild der Ausgangspunkt von Schnitzlers Arbeiten. Angeregt von Personen, die ihm auffallen, aber weit weg vom Porträtieren, versucht er, das Zuständliche der Person bis in ihr Innerstes durch das Medium der äußeren Erscheinung zu erfassen und so sichtbar zu machen. Es geht ihm um die Ausdruckskraft des Dargestellten. Und das Dargestellte ist nicht allein die Person, ihre Haltung oder ihr Bewegungsgestus, sondern zugleich auch das Mit- oder vielleicht Gegeneinander von Farben, Flächen und Linien auf der Leinwand. Die Figuren werden zum Vehikel eines Prozesses, der über die malerischen Mittel enthüllt.

 

Deshalb bleiben die Menschen bei Schnitzler auch mehrheitlich allein und ohne räumlichen oder räumlich fest markierten Kontext. In dieser Isolierung haben sie etwas Verlorenes, wirken aber gleichzeitig autark, sind ganz bei sich, vermitteln eine rätselhafte Zufriedenheit, zu der der Betrachter keinen Zugang hat. Eine melancholische Grundstimmung scheint vorherrschend. Diese Melancholie prägt vielleicht auch das Weltbild des Künstlers, der selbst in seinen Zweiergruppen kaum ein wirkliches Miteinander abbildet.

 

Aber wie es einem Maler nie ausschließlich um das Sujet als solches geht, so entwickeln sich auch Schnitzlers Werke in der Auseinandersetzung mit den „technischen Hilfsmitteln“ wie Farbe, Bleistift, Pastell, Öl und insbesondere einer speziellen Kohle-Technik. Im Umgang mit diesen Mitteln visualisiert der Künstler nicht einfach seine Sujet-Ideen. Es ist eher umgekehrt. Diese lassen das Sujet erst entstehen.

 

Das immer wieder neue Spiel von Kohle und Öl auf der Leinwand schafft ein gewisses Unbestimmtheitsverhältnis, etwas Vages, nicht Nichtfestlegbares. Die Personen sind oft konturiert, gehen jedoch eine eigenartige Verbindung mit ihrer Umgebung ein. Im sitzenden Mann von 2016 beispielsweise ist es ein zartes Pink, das überall Eingang findet. Wir treffen es nicht nur im Gesicht des Mannes, in seiner Jacke, seinen Hosen, auf dem Fußboden, in der Blüte der auf einem niedrigen Möbel stehenden Pflanze. Sekundierend wirkt die Skala der Grau-, Weiß- und Schwarztöne. Nahezu unabhängig vom Bild-Sujet entwickelt sich auf einer weiteren Ebene eine eigenständige Farbwelt.   

 

In der Schwerdeutbarkeit der Porträtierten liegt auch die Herausforderung, der sich der Betrachter stellen muss. Jede Figur ist in anderer Weise irritierend. Alle weisen auf die Rätselhaftigkeit der menschlichen Existenz, verdeutlichen gleichzeitig das Hermetische, mit dem sich jeder umgibt oder das der Maler ihm gibt. Dieses Außenbild ist als Außenbild kein Schlüssel zum Inneren. Eigentlich verrät es nichts über das Wesen der dargestellten Person, außer dem Erscheinungsbild, das dazu verleitet, Typen erkennen zu wollen. Letztlich aber wird der Betrachter in die Position des Fragenden versetzt. Die Antworten, die wir finden, sind nicht gesichert. Sie vermitteln nur eine Ahnung, eine Vermutung und stoßen uns auf die Tatsache, dass wir letztlich nichts wissen. 

 

Auch das so einvernehmlich einander zugewandte, auf ein Handy schauende Paar mit den schmunzelnden oder lächelnden Gesichtern ist keineswegs harmlos. Zwei Personen werden zusammengeführt über ein zentrales Objekt unserer Zeit, das weltweit Kommunikation ermöglicht, im zwischenmenschlichen Nahbereich aber häufig zerstört. Schnitzler zeigt scheinbar ein Zusammensein. Die beiden Personen blicken auf das Gleiche und amüsieren sich über das Gleiche. Wer sie aber sind, was sie zusammenführt, in welchem sozialen Kontext sie zu verorten sind, bleibt unklar.

 

So ist es letztlich gerade das Undurchsichtige, das Angedeutete, die durchgehende Ambiguität, die die Betrachtung von Georg Schnitzlers Bildern so spannend macht. 

 

Kunsthistorikerin Barbara Zelinsky, April 2018